Erfahrungsbericht: ATL Falter als Reiserad

von: sanchez

Erfahrungsbericht: ATL Falter als Reiserad - 27.02.13 06:34

Hallo,

ich bin seit nun fünf Monaten mit dem ATL (AllTagsLieger) Falter von
Radnabel auf einer längeren Reise unterwegs. Wir sind zu zweit von
Berlin aus gestartet, ~7500km durch die Tschechische Republik, die
Slowakei, Ungarn und Rumänien gefahren, haben dann einen Sprung in die
Türkei gemacht, die Türkei gequert, durch den Iran und in die Emirate.
Von dort sind wir nach Jakarta geflogen, und nun auf dem Weg die
Westküste Sumatras entlang. Wir wollen Südostasien weiter hoch fahren,
Richtung China.

Ich hatte mir den Falter als Reisegefährt gekauft, und ihn vor dieser
Reise kaum gefahren. Da ich vor dem Kauf auch hier im Forum gesucht
aber wenig dazu gefunden hatte, will ich ein bisschen berichten, wie
sich der Falter als Reiserad für eine längere Reise macht. Vielleicht
überlegt sich der eine oder andere, sich einen atl anzuschaffen - ich
kann auf jeden Fall dazu empfehlen.

Die Zusammenfassung vorweg: Der atl Falter ist ein klasse Reiserad,
man fährt auch lange Strecken super komfortabel und entspannt. Wenn es
regnet ist die Verkleidung große Klasse, drinnen bleibt man selbst im
strömenden Regen oder bei eisiger Kälte trocken und warm. Das
Einfalten ist für das Überbrücken von Strecken mit kleinem Bus, PKW,
Pickup oder Flugzeug, oder auch wenn man das Rad abends hinein in ein
Zimmer nehmen will sehr geschickt. Das Rad ist super solide und robust
gebaut, und bis in die Details durchdacht.

Der Alltagslieger ist ein Langlieger mit Obenlenker und 20"-Rädern.
Diese Kombination ist ziemlich speziell und relativ ungewöhnlich für
ein Liegerad. Man sitzt - für ein Liegerad - relativ aufrecht und der
Kopf ist immer noch etwas höher als der eines PKW-Fahrers. Durch den
Obenlenker hat man die Lenkung direkt in der Hand. Mit 20"-Rädern ist
das Rad auch bei höheren Geschwindigkeiten ziemlich wendig und dafür
auch weniger richtungsstabil als ein 26" oder 28" rad.

Die Federung des Falters (vorne eine Parallelogrammfederung, hinten
ein dicker Gummiblock) ist große Klasse, man kann auch über sehr
holprige Piste komfortabel fahren. Besonders für ein Liegerad ist
denke ich die Federung wichtig, da man sonst Probleme mit der
Wirbelsäule bekommen kann.

Auf dem vorderen Gepäckträger hat man einen Vorbau (wir nennen ihn
"Caddy", eigentlich heißt die Verkleidung "delfin"), in dem man
geschickt Trinkflasche, Kekse, Fotoapparat, Poncho, Werkzeug, Navi,
oder auch die grade am Straßenrand gekauften Bananen und so weiter
immer griffbereit hat. Der super-clou ist wirklich der Poncho
(Alfred's AllWetterSchutz) - er wird vorne am Caddy eingehängt, und
unter ihm ist man komplett vor Wettern geschützt und kann auch im
strömenden Regen fahren.

Das tolle am Liegerad ist, daß der Oberkörper komplett entspannt ist,
und man nicht über den Rücken und die Arme den Druck auf die Pedale
ausgleichen muß, man hat hier die Rückenstütze als Gegenpunkt für die
Kräfte. Dadurch zieht auch nach einem langen Radeltag der Rücken nicht
oder nur sehr wenig. Ich fahre mit Klickpedalen, um auch Kraft beim
Zug ausüben zu können.

Da man bei diesem Rad nach vorne und nicht nach unten tritt, braucht
es eine ziemliche Weile, bis sich die entsprechenden Muskeln aufgebaut
haben. Bei mir ist die Kondition erst nach etwa eineinhalb Monaten
gekommen - allerdings war ich vorher zwei Jahre auch komplett faul im
körperlich untätigen Stadtleben.

Gewöhnungssache ist auch das Kurven fahren - wenn man sich anfangs mit
Knien und Lenker ins Gehege kommt, lernt man sehr schnell, das
richtige Pedal unten zu haben, die Knie nach innen zur Seite zu legen,
oder auch O-beinig zu fahren. Der atl hat einen erstaunlich kleinen
Wendkreis, da man das Vorderrad sehr weit einschlagen kann.

Die Aerodynamik des Liegers ist natürlich besser als die eines
Hochrads, sodaß man normalerweise recht flott vorwärts kommt und auch
bei heftigen Gegenwinden, zum Beispiel in der Wüste, immer noch
anständig fahren kann ohne frustriert zu werden. Mein Bruder, der ein
normales Mountainbike meist hinter mir fährt, freut sich über den
Windschatten - und kann dennoch über mich drüber die Landschaft
genießen. Apropos Aussicht - in der Liegeposition, die etwa so wie in
einem komfortablen Sessel ist, kann man die Umgebung besonders gut
genießen, in der entspannten Haltung ist der Blick nach vorne, nicht
nach unten gerichtet.

Berge kann man mit dem atl auch gut hochpedalen - wegen dem weiten
Radstand hat man nicht das Gefühl, nach hinten zu kippen. Sogar sehr
steile Straßen (Lykien, Sumatra!) kann man fahren. Nur wenn es
rutschig und sehr steil ist, zum Beispiel eine matschige Rampe, geht
es schwieriger, vor allem wegen den kleinen Rädern.

Ich habe zusätzlich zum Caddy vier Ortlieb classic Taschen, zwei unter
dem Sitz, zwei an einem extra Gepäckträger der hinten am Sitz
drangeschraubt ist. Am Anfang hatte ich sehr viel Gepäck, habe das
meiste schwere auch in den Taschen hinten, da es dann das
Fahrverhalten wenig beeinflußt. Außer natürlich wenn man Berge hoch
fährt, spürt man vom Gepäck nicht sehr viel. Wenn man aber zu viel
schweres vorne in den Caddy packt, wird es beim Lenken wackelig.

Ich fahre eine Rohloff Speedhub, da läuft die Kette fast komplett in
einem Plastikröhrchen und ist so geschützt, und man ist vor der
Kettenschmiere geschützt, vor allem wichtig beim Einfalten. Die
Speedhub ist natürlich super Luxus und Komfort. Der Nachteil ist daß
die Kette bei holpriger Straße im Röhrchen scheppert - man gewöhnt
sich dran, aber es ist nicht ganz lautlos. Auch bei glatter Straße
macht die Kette etwas Geräusch wenn sie ins Röhrchen geht, etwa so wie
die Speedhub.

Der SON macht Strom für eine Menge Licht, auch wenn man nur langsam
fährt, echt erstaunlich. Dazu habe ich auch noch einen
Spannungswandler um ein Handy per USB zu laden, das hat mit Navi und
allem super funktioniert, bis nach vier Monaten die USB-Buchse im
Handy abgebrochen ist, aber das ist wohl eine andere Geschichte.

Auf dem SON ist eine Sturmey-Archer Trommelbremse, die soll sehr
robust und langlebig sein. Hinten habe ich eine HS33. Gute Bremsen
sind finde ich ungemein wichtig für die Sicherheit, vor allem wenn man
bepackt und schnell fährt.

Probleme hatte ich, außer ein paar Platten, folgende:
- Die ersten 4000 km oder so ist fast regelmäßig alle 800 km eine
Speiche des Hinterrads gebrochen. Wahrscheinlich war es die
Kombination von viel Gewicht (120 - 150kg, das meiste auf dem
Hinterrad), gebogenen Speichen (Durchmesser der Speedhub, und nicht
präparierte Löcher in der Felge), und aber vor allem zu lasch
angezogene Speichen. Nachdem ich sie stärker gespannt habe, ist die
letzten paar tausend km keine mehr gebrochen, also wird es das wohl
gewesen sein. Wenn ich das Rad neu einspeichen würde, würde ich die
Löcher in der Felge etwas schräg punzen, damit die Speiche so aus der
Felge kommt, daß sie dort keine Biegung macht, oder andere Nippel
verwenden.
- Nach ein paar Monaten ist die Befestigung des vorderen
Taschenhalters vom Rahmen abgebrochen. Das haben wir mit einem
Metallteil aus dem Haushaltswarenladen und Schlauchschellen behoben,
sieht jetzt nicht so toll aus, aber hält sicher eine ganze Weile.
- Das vordere Schutzblech ist in der Mitte quer durch gebrochen, ich
nehme an daß es zu viele Aufsetzer hatte wenn ich Bordsteine oder so
runter gefahren bin. Das hatte ich mit tape geklebt und nun an einem neuen
Loch angeschraubt, das wird hoffentlich halten, sonst gibt es eine
mäßig angenehme Dusche von unten wenn Wasser auf der Straße ist.
- Das untere Umlenkröllchen, wo die Kette vom vorderen Kettenblatt in
das Röhrchen geht, kann in Schwingungen geraten und sich mit der
Kurbel verhaken, was ein ziemlich lautes Klacken produziert. Ich habe
es mit Gummibändern oder Haargummi an die untere Schnalle gespannt.
- Nicht wirklich ein Problem - man muß es aber beachten: Die Federung
vorne ist einmal bei einem Schlagloch oder so teilweise
durchgerutscht, dann muß man sie entspannen indem man die Schrauben
lockert und wieder anzieht, sonst wird die Lenkung schwammig. Das
hatte ich zwar gewußt aber nicht realisiert, und so hat es mich beim
Abbiegen auf Kies zwei Mal hingelegt, bis ich auch das gelernt hatte.

Für fünf Monate, acht Länder, 7500km, den Anfang einer Radreise ist
das denke ich eine gute Pannenstatistik.

Man ist mit dem atl in vielen Ländern schon eine Sehenswürdigkeit. Das
reicht von Bewunderung (in den meisten Ländern) bis dahin, daß einen
alle Kinder auslachen (Rumänien) - wenn man's mit Humor nimmt, kann
man da viel Spaß haben.

Nachteilig finde ich die kleinen (20") Räder, wegen denen man auch bei
hohen Geschwindigkeiten nicht so viel Richtungsstabilität hat wie bei
größeren Rädern. Auch bei sehr matschiger Piste oder im Sand ist man
mit einem Mountainbike besser dran. Ein anderes Manko ist der Ständer
- man muß die Hinterradschwinge einfalten, um ihn zu benutzen, und mit
Gepäck hält er nicht. Wer also mit dem atl auf Reise geht, kann den
getrost zuhause lassen. Hier könnte man noch etwas konstruieren,
vielleicht ein Teleskop-Dreibein unten am Rahmen oder so.

Der falter wiegt ca 18 kg, mit Caddy, Poncho und Gepäckträger etwa
20kg. Wenn man ihn zum Beispiel in der Stadt mit Gepäck über hohe
Leitplanken heben muß, ist das manövrieren da schon anspruchsvoller.

Ein anderer Nachteil ist natürlich der hohe Preis des Alltagsliegers,
vielleicht so viel wie man in einem oder eineinhalb Jahren radreisen
unterwegs ausgeben würde. Der Preis wird zwar verständlich, wenn man
die Genialität der Konstruktion und die Qualität des Rades bis in die
Details sieht, und auch weiß daß es großenteils per Handarbeit in
Kleinserie in Deutschland produziert wird. Mit so einem teuren Stück
durch die Gegend zu fahren, heißt aber leider auch daß man ein
schweres Schloß mitnehmen und vor allem immer besonders acht geben
muß. Glücklicherweise sieht das Rad nicht so teuer aus wie es ist.
Gut, wenn man trotzdem entspannt sein kann und nicht mit Mißtrauen den
Menschen begegnen muß. Allerdings sind wir auch anderen Radlern
begegnet, die für ein relativ normales Rad beinahe so viel ausgegeben
haben.

Spezielle Ersatzteile habe ich eigentlich kaum dabei. Abgelängte Züge
für die Speedhub, Ersatzschlauch für die Hydraulikbremse, zwei Sätze
Magura-Bremsklötze. 20"-schläuche mit "französischem" Ventil scheint
es nicht so oft zu geben, wenn ich Pech habe muß ich wohl doch das
Loch aufbohren.

Ich bin noch eine Weile unterwegs, werde also auch weiterhin
berichten. Ich beantworte auch gerne auch alle Fragen, weil wir aber
meistens mit Radeln beschäftigt sind und nicht so oft im Internet,
kann das eine Weile dauern...

Schöne Grüße
Stefan

cyclingmemories.net