Re: Marrakesch keine Reise wert

von: paschukanis

Re: Marrakesch keine Reise wert - 07.12.14 11:11

Interessante Diskussion bisher!

Ich möchte noch ein, zwei Punkte in die Runde werfen:
Zunächst muss man sich glaube ich klarmachen, dass man auch in seinem gewohnten Umfeld meist nur ein wandelnder Geldautomat ist. Ob bei ALDI, in der Bahn oder der Stammkneipe, wenn du nicht zu Geld geronnene Arbeitskraft in der Tasche hast, hast du da nichts weiter verloren. Ob du trotzdem ein Bedürfnis nach Essen, Ortsveränderung oder 'nem Kaltgetränk hast interessiert da nicht. Und zwar nicht aus böser Absicht, sondern weil die Waren produzierende Gesellschaft von ihren Mitgliedern ein solches Verhalten, bei Strafe ihres Untergangs, erfordert. Mit anderen Worten: wenn der Wirt zu viel Freibier gibt, kann er zu machen.
Ähnliche Verdinglichung der Beziehungen kann man auch für die Arbeit feststellen (den Chef interssiert die Ware Arbeitskraft mehr als deren Träger), sowie unser Verhältnis zu der uns umgebenden Natur (alle wissen, dass Öl und Kohle verbrenne Stulle ist, aber alle machens trotzdem, z.B.).
In den 250-500 Jahren (je nach Betrachtungsweise) in denen in West- und Mitteleuropa diese Art des Wirtschaftens schon die vorherrschende ist, haben wir uns natürlich ganz gut dran gewöhnt. Die Ecken und Kanten die das Ganze mit sich bringt sind auch einigermassen rundgeschliffen. ALDI und die Bahn wissen, das sie mehr verticken wenn sie einigermassen nett zu den Leuten sind; der Kneipenwirt hat erkannt dass er mehr Umsatz macht wenn er keinen Schlepper vor der Tür hat, sondern ein zufriedenes Stammpublikum drinnen; der Chef hat mitgekriegt das glückliche Mitarbeiter auch noch das letzte Quentchen Lebensenergie aufzubringen bereit sind um die Firma zum Erfolg zu führen; usw, usf.
Diese Gewöhnung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass unser Verhältnis zu unserem Planeten und den Leuten die darauf wohnen ein weitestgehend instrumentelles geworden ist (wieder OHNE moralische Wertung; niemand hat sich das in böser Absicht erdacht).

Ich möchte nun behaupten, dass man in Marokko (und anderswo) eine Art Blick in die Vergangeheit (Europas freilich) werfen kann. An der Hamburger Reeperbahn in den 1920ern oder in Soho/London in den 1850ern herrschte sicher ein ähnlicher Nepper-Schlepper-Bauernfänger Betrieb (wahrscheinlich aber schlimmer). Viele Marokkaner (oder Vietnamesen oder sonstwer) haben auch noch ein ganz gutes Gespür dafür wie absurd die verdinglichte Ökonomie ist, einfach aufgrund der Tatsache, dass parallel noch ältere Strukturen existieren (v.a. auf dem Land). Daher die vermeintliche (oder auch tatsächliche) Arroganz, gegenüber Leuten die nur noch Konsumenten (und so gesehen keine 'echten Menschen') sind.

Aber man kann beruhigt sein: die sanfte Gewalt des Kapitals wird auch aus Marrakesch und Hue noch ein weiteres, leicht konsumierbares Biarritz, Sorrento oder Oberammergau machen grins

P.S.: Ich betone nochmal das ich nicht moralisch Werten will! Ich selbst fand zwar Marrakesch sehr nett, hätte aber in Da Lat alle die mir die Easy-Rider-Mptorradtour aufschwatzen wollte am liebsten abgeschellt, dass es nur so klingelt!