Mittwoch, 31. Mai 2017: Fragen nach dem "Warum?"

von: joeyyy

Mittwoch, 31. Mai 2017: Fragen nach dem "Warum?" - 16.09.17 21:22

Am Morgen kommt der Anruf von Sama: Wir haben ein Taxi. Für 600 Euro von Srinagar nach Leh. Um 10 Uhr steht es an der Straße vor der Tür. Chris und ich beratschlagen kurz und sagen zu. Natürlich ist das teuer. Aber in Zeiten der Unruhe und des Aufruhrs ist alles knapp und somit alles teuer. Und wir wissen auch nicht, wer an dem Deal beteiligt ist und wer für wen wieviel Provision abzweigt. Wir wollen einfach nur hier raus.

Wir haben noch genügend Zeit, uns von Ahmets Mutter und seinen Schwestern zu verabschieden.

Ich bin gerührt von der Gastfreudschaft, die Chris und ich durch diese muslimische Familie erfahren haben. Wir versprechen uns, alles Mögliche zu versuchen, uns wieder zu sehen. Auch wenn es nahezu aussichtslos ist.

Am Ende kann ich meine Tränen nicht unterdrücken und die Frauen auch nicht.



Wir reden noch darüber, was wir alle gemeinsam ändern wollen, damit die Situation für die Menschen hier in Kaschmir ruhiger und besser und vernünftiger würde. Aber wir sehen gemeinsam auch, dass wir nicht ankommen gegen das Dogma der Tradition, der gelebten Religion, des Patriarchats.

Aufklärung und die Regeln der Vernunft sind in radikal muslimischen Ländern und Regionen seit rund 700 Jahren eingefroren.

Ein Dialog mit Menschen, hier in der Regel Männern, die die sogenannte Tradition dermaßen hart und fest im Denken und Fühlen verankert haben, ist schlicht nicht möglich.

Was soll ich denken, wenn ein Vater seine Tochter beziehungsweise die Brüder ihre Schwester vergiften werden, wenn sie mit ihrem geliebten Freund zusammen ist? Ich versuche, mich in ein solches Gedankenkonstrukt zu versetzen. Es gelingt mir nicht, mir wird übel, wenn ich daran denke, meine Tochter töten zu „müssen“, wenn sie mir nicht gehorcht. Ich kann diese Menschen nicht verstehen. Um das für mich nochmal klar zu haben: Ich habe nicht nur kein Verständnis für eine solche sklavische Unterwerfung unter traditionelle Riten. Nein, ich verstehe es auch nicht. Wie kriegen die muslimischen Prediger ihre anvertrauten Gläubigen bloß so programmiert? Und warum?

Meine Fragen nach dem „Warum?“ werden mit Schulterzucken oder „Weil es so ist!“ beziehungsweise „Weil der Prophet es so will!“ oder „Weil es im heiligen Buch steht!“ beantwortet.

Dabei kennen die wenigsten Muslime das was der Prophet wollte. Oder was im heiligen Buch steht. Die Sprache des Koran ist arabisch, teilweise vor- und früh-arabisch, und arabisch sprechen hier nur die Prediger – und auch von denen nicht alle. Das was Luther für die Christen tat, nämlich die Bibel ins Deutsche zu übersetzen, halten die Muslime beim Koran für unmöglich. Manche Prediger empfehlen, eher die arabischen Buchstaben anzuschauen als eine Übersetzung zu lesen. Das scheint eine mögliche Begründung dafür zu sein, dass es für Moslems möglich ist, jedes Denken, Fühlen und Handeln auf den Koran zurück zu führen. Und sich damit – egal, was sie tun – von Schuld und Verantwortung frei zu sprechen.

Wenn ich abstrahiere, dann habe ich den Eindruck, dass diese Religion weder willens noch in der Lage ist, sich mit Andersartigkeit auseinander zu setzen. Im Gegenteil: Wir Ungläubigen sind dogmatisch aufgefordert, die Unnachahmlichkeit des Korans einzugestehen. Und implizit, uns den Texten und damit Regeln des Buches zu unterwerfen. Dazu muss man wissen, dass der Koran als wortwörtliche Offenbarung Allahs an den Propheten Mohammed gesehen wird.

Nach muslimischer Logik will Gott also, dass wir uns dem Koran unterwerfen.

Und das müssten wir Christen doch auch, da es doch auch unser Gott ist, der sich dem Propheten offenbarte.

Alles Verhalten hier, alles Denken, alles Fühlen wird von den Menschen auf den Koran zurückgeführt. Und ist somit dogmatisch abgesichert. Von Skepsis, von Reflektion, von Toleranz empfange ich auch nicht die leisesten Anzeichen. Wenn es unlogisch wird, zucken die Menschen, die ich befrage, mit den Schultern. Das wars. Selbst bei den Frauen, die mir noch unfreier zu sein scheinen wie die Männer, erkenne ich keine Ansätze zum Aufbegehren, zum Nachdenken, zum Umdenken.

Eine Aufweichung dieses Dogmas scheint nur dadurch möglich zu sein, dass die zwingende und erzwungene Verbindung zwischen den Menschen und dem Koran in Frage gestellt wird. Es müsste einen islamischen Luther geben, eine entsprechende protestierende Bewegung, flankiert von Auseinandersetzungen mit einem religiös unabhängigen Ethos. Auch Menschen, die nicht nach den Worten des Koran leben können und wollen, müssten die Möglichkeit zugesprochen bekommen, sich ethisch und moralisch richtig verhalten zu können.

Allein, niemand sieht eine solche Bewegung, eine solche Tendenz.

Wir tragen die Räder an die Straße, das Taxi wartet bereits.

Hussein, der Taxifahrer, ist ein kleiner, freundlich aussehender, lächelnder Mann, der uns hilft, die Räder aufs Dach des Autos zu bekommen und sie ausreichend fest zu zurren. Der Rest des Gepäcks wandert in den Kofferraum. Das Taxi ist ein kleiner Bus mit ausreichend Platz für sechs Leute.

Also haben wir zu viert eine komfortable Reise zu erwarten.



Wir fahren los, Richtung Kargil – unsere geplante abendliche Zwischenstation, die bereits hinter den ersten hohen Pässen liegt.

An uns vorbei ziehen Reisfelder, die von einzelnen Bauern in mühesamer Manier mit einzelnen Harken bestellt werden. Vorbei ziehen auch Müll, glimmende Kabel und Reifen, rauchende Zeugen des Aufruhrs. Dennoch empfinde ich eine erstaunliche Normalität, bedenkend, was in den letzten Tagen in Srinagar und Umgebung los war.

Kurz hinter Srinagar müssen wir an einer Straßensperre halten.

Jetzt kommt uns zugute, dass Ahmet das Kennzeichen des Taxis auf der Polizeistation angab und dafür einen Passierschein „kaufte“. Offensichtlich funktioniert das. Die Polizisten sind ernst, zählen die Passagiere des Taxis durch, prüfen das gegen ihre Listen und winken uns nach einem gefühlt viel zu langen bangen Moment weiter.

Langsam geht es bergauf.

Die Straße ist anfangs noch geteert, wird aber schnell zur Piste. Auf dieser Piste ruckelt und wackelt es, so dass ich fürchte, irgendwann autokrank zu werden.

Chris, Ahmet, Hussein und ich sind ein gutes Team hier im Taxi, in der Situation. Hussein ist ein sehr guter Fahrer, der sein Auto, die Strecke und auch die LKW-Fahrer gut kennt und defensiv fährt. Ich sage ihm das, er freut sich sichtlich übers Lob.

Die Piste wird abenteuerlicher, wir müssen häufig anhalten, um entgegenkommende Autos durchzulassen.

Immer wieder hängen wir auch hinter langsam fahrenden Lastern fest, deren Fahrer allerdings in der Regel sehr zuvorkommend sind und – sobald es ihnen möglich ist – Platz machen, damit wir überholen können.

Ich lehne mich während der Fahrt oft aus dem Fenster, um zu fotografieren. Wenn ich dann nach unten schaue, dort, wo das Vorderrad rollt, staune ich über die Passgenauigkeit, mit der Hussein auf der Straße fährt, den Abgrund keinen halben Meter neben sich.

Die Landschaft hier ist göttlich.

Zwischendurch machen wir immer mal Pause, essen, trinken, pinkeln.

Ich erkenne, dass der Srinagar-Leh-Highway erst vor kurzem geöffnet werden konnte – überall am Straßenrand klopfen dunkelhäutige Arbeiter, die aus dem Süden Indiens kommen, Steine klein, um mit ihnen dann die schlimmsten Schlaglöcher zu stopfen.

Ebenfalls ist das Militär hier allgegenwärtig. Soldaten gehen am Straßenrand Streife und viele Militärfahrzeuge begegnen uns auf dem Highway. Die indische Armee hat aus strategischen Gründen das größte Interesse daran, dass der Highway im Sommerhalbjahr befahrbar ist.



Am Abend kommen wir dann nach rund zehn Stunden Fahrt in Kargil an, dem heutigen Etappenziel unserer Fahrt. Dort steigen wir in einem recht einfachen Hotel ab und sind müde, so dass wir gar nicht mehr groß essen gehen. Wir beziehen unsere Zimmer, erzählen uns noch was, Ahmet telefoniert mit Sama – in Srinagar ist zum Glück alles einigermaßen ruhig geblieben.

Chris und ich atmen auf. Wir haben nicht mehr den Eindruck, auf der Flucht zu sein. Obwohl es eine ist. Normalerweise wären wir hier mit den Fahrrädern lang gefahren.

Ich bin mir unsicher ob ich das jetzt bedauern oder einfach abhaken soll. Ach, ich konnte die Fahrt hier hoch staunend genießen, morgen wird es nochmal spektakulär und ich bin in guter Gesellschaft.

Alles gut.

<Fortsetzung folgt, mehr Bilder gibt es unter www.gondermann.net>